zwischen
blatt und blatt
schreibt
leise die sehnsucht
Auf der spur des verletzten einhorn
Katharina Pauly
Es
war einmal ein märchen. Es wollte aufgeschrieben werden, doch es wusste nicht
mehr, wie es hiess. Tagelang zerbrach es sich den kopf, doch es hatte sein
gedächtnis verloren. Darüber war sehr unglücklich. Es konnte nicht mehr lachen
und weinen, sich über nichts freuen. Da kamen alte freunde um es aufzumuntern.
„Erinnerst
du dich, wie schön es damals war?“
Natürlich
dachte das märchen an die schönen alten und uralten tage, aber seinen namen
wussten sie nicht. Es grübelte weiter und die tage gingen dahin. Da begegnete
es einem alten inder auf einem markt, der gewürze und schmuck verkaufte. Er sah
dem märchen in die augen und schenkte ihm einen ring mit einem geschliffenen
bergkristall. Das märchen blickte in den glasklaren stein. Plötzlich kam seine
erinnerung wieder. Es wusste, wie es hiess. Es war die zukunft, die es aus den
augen verloren hatte. Wie ein klarer tiefer bergsee lag alles vor ihm. Ja,
zukunft, so wollte es heissen. Und es brachen märchenhafte zeiten an.
Da
legte sich das märchen in einen hundertjährigen tiefen schlaf und träumte einen
traum. Den traum des letzten einhorn. Man hat es lange nicht gesehen. Hat es
sich doch in den rotgelben wäldern des herbstes zurückgezogen. Das märchen hat
nur noch einen gedanken, es musste sich auf die suche nach dem einhorn machen.
Sonnenstrahlen erhellen das dichte blattwerk der bäume und erleuchten die
stufen. Am ende des weges ist ein rotes tor zu erkennen. Erstaunt bleibt es
stehen. Was war geschehen, es blickt an sich hinunter. Es hat die gestalt eines
jungen mädchens angenommen. Mit verwunderten augen steigt sie langsam den berg
hinan. Der farn hat neue triebe hervorgebracht und lässt den boden des waldes
in grüntönen des frühlings erstrahlen. Sie saugt den duft des waldbodens tief
in ihre brust ein. Als sie oben anlangt, schreitet sie durch das rote tor, das
wie ein galgen erhaben über ihr schwebt. Würde man ein seil daran befestigen, könnte
man eine hinrichtung vollziehen. Ein frieren durchzieht ihren körper und lässt
sie erschauern. Eine ebene breitet sich aus. Weinberge soweit das auge reicht.
Plötzlich verdunkelt sich die sonne.
„Ich
sehe nichts mehr.“
Ein
heftiger wind kommt auf. Von minute zu minute schwindet die helligkeit des
mittags. Die zeit scheint still zu stehen. Die stille gleicht einer erstarrung.
Grauschwarze kälte breitet sich aus. Ein frösteln lässt das junge mädchen
erschauern. Grosse dankbarkeit umfängt das land. In der weite sind die umrisse
eines schattens zu erkennen. Es ist das einhorn, das sich ihr zu erkennen gibt.
Das mädchen greift mit einer hand nach ihm, um es festzuhalten. Doch es ist zu
weit entfernt und dann ist nichts mehr zu erkennen. Traurig setzt sie sich auf
eine bank. Der schönste platz der einsamkeit. Stille. Ohne ein Wort. Niemand,
nur sie beide. Nur eine Nachtigall – nein, es war eine Lerche – fliegt und hält
inne – nicht weil sie träumt – nein, die lerche ruft nur leise immer wieder –
stille.
Das
junge mädchen pflückt sich einige trauben und isst einen knochenharten apfel. Einen apfelkern schiebt
sie in ihre jackentasche. War es nur ein bild, eine einbildung in ihrer
fantasie? Nein, sie ist sich sicher, das einhorn hat sich ihr zu erkennen
gegeben, sie musste seine fährte aufnehmen.
Nachdem
sich das mädchen eine weile ausgeruht hat, macht sie sich auf den weg durch den
dichten, dunklen wald und kommt endlich auf einer lichtung an. In einer
wegbiegung steht ein mann tief in seinen gedanken versunken. Der weissbärtige
alte schaut auf, die sonne steht im zenit und er sucht sich einen platz unter
einer mächtigen schattenspendenden akazie. Das durchdringende zirpen und
zischen einer zikade zersägt die luft. Als der alte das mädchen erblickt,
scheinen seine Gedanken in die gegenwart zurückzukehren.
„Sei
willkommen, Leila, du aus der dunkelheit des meeres geborene. Endlich hast du
den weg zu mir gefunden. Er war beschwerlich, dein weg, aber du wirst sehen, du
sollst dafür belohnt werden. Ich habe lange auf dich gewartet. Nun bist du
endlich da. Komm her zu mir und lass dich anschauen. Du hast dich gar nicht
verändert.“
Da nahm der
alte das gesicht Leilas zärtlich in seine hände.
„Wieso
kennst du mich? Was wird mein lohn sein und wer bist du überhaupt? Du musst
wissen, ich bin auf der suche nach dem einhorn, du weisst, das schöne starke
pferd mit dem horn auf der stirn. Ich muss es finden, bevor es zu spät ist.
Kannst du mir helfen?“
„So
viele fragen auf einmal kann ich dir nicht beantworten, kleine Leila. Du wirst
dein glück finden. Das wird dein lohn sein. Ich bin nur ein alter mann, mein
leben geht dem ende zu.“
Grosse
runde augen schauen in die leere.
„Du
wirst dein geliebtes einhorn finden.“
Glücklich
blickt Leila in die gütigen augen des alten.
„Ich habe es gesehen. Es hat sich mir
zu erkennen gegeben.“ Leila erzählt eifrig von der ersten begegnung mit dem
einhorn, von dem schatten, den es gesehen hat und von der finsternis, die sich
über die erde legte.
“Folge
diesem weg, gehe ihn weiter, dann wirst du es finden. Niemand weiss, wann das
glück wieder eintreffen wird, dass es sich einem menschen zu erkennen gibt.
Bleibe auf seiner fährte und verliere die gewissheit nicht. Es hat den äther
des kosmos geatmet. Bleibe auf seiner spur. Aber gib acht, es ist verletzt.“
Der
alte wendet sich ab, er will nicht mehr gestört werden. Will er doch wieder
darüber nachdenken, warum man menschenopfer bringen muss, um für die schiffe
einen günstigen wind zu erbitten. Für die kriege, die die menschen führen, die
die erde niederbrennen, um deren sieg zuliebe sie junge wehrlose mädchen
opfern, an einen felsen fesseln, um sie der tosenden see zu schenken. Was
glauben die menschen nur, wer den wind für sie macht. Sie werden keine zukunft
haben, wenn sie nicht beginnen nachzudenken.
Die
ebene ist menschenleer, auch Leila hat ihren weg fortgesetzt.
„Warum
schweigt ihr, warum schweigt ihr still?“
Blicklos
haucht der alte die worte in die heisse glut der mittagssonne und macht sich
auf den heimweg in seine stadt. Und er scheint die antwort zu kennen, die sie
ihm geben werden.
Wir
wollen es nicht wissen. Wir können es nicht ändern. Wir haben angst, man könnte
uns bestrafen.
Aber dann
wird er sie fragen: Seid ihr sprachlos? Seid ihr wunschlos glücklich? Und sie
werden ihm eine antwort geben, aber er wird wissen, dass es keine ehrliche
antwort sein wird. Er wird wissen, dass ihnen der mut fehlt, die wahrheit zu
sagen. Er stockt. Hält inne in seinem gedankengang.
Was
ist wahrheit? Kennt er die wahrheit? Ist er den falschen weg gegangen? Kann man
schweigen mit nachdenken gleichsetzen? Das würde doch bedeuten, dass nach dem
schweigen und nach dem denken das handeln folgt. Dann ist es gut, wenn sie
schweigen, um nachzudenken. Genau wie er es im augenblick auch tut. Ein seufzer
kommt von seinen lippen.
Würde er kinder fragen, könnte er auf eine ehrliche antwort hoffen. Kinder, die noch an wahrheit glauben und das, was sie wissen für die wahrheit halten. Für sie hat alles eine ordnung, sie glauben, was sie sehen, was sie hören, was sie fühlen. Aber gibt es nicht auch bei ihnen angst, neid und aggressionen? Haben sie nicht auch schon gelernt, dass wahrheit schwer zu ertragen ist. Kinder, die noch keine zweifel haben, die in einer geraden bahn denken, sich über alles freuen können, die noch nicht dahinter denken. Soll er sie aufwecken, ihnen die illusionen nehmen, nimmt er ihnen dann nicht auch die hoffnung? Er weiss, dass es im leben nötig ist, zu zweifeln, nicht alles zu glauben, nicht allen zu vertrauen und dennoch nicht zu verzweifeln. Zweifeln aber nicht verzweifeln, das ist eine der lebensweisheiten, die er seiner jugend mitteilen möchte. Doch so viel stärker ist in den jungen menschen der trieb, selbst zu leuchten, als zu sehen. Wieder hört er die stimmen, immer und immer wieder dieses frageantwortspiel. Nie will er diese fähigkeit verlieren, sich zu wundern, immer wieder zu staunen. Das ist sein weg, die menschen verstehen zu lernen.
Die strassen sind wie leergefegt. Die hitze des mittags hält sie in ihrem atrium gefangen, lässt sie den schatten und die kühle suchen, aber später werden sie wieder an ihm vorbeigehen und ihn nicht beachten. Sie werden nicht die freude, nicht die trauer in seinen augen sehen. Sie werden ihm kein freundliches wort, keinen freundlichen blick schenken. Leben und doch tot sein, sich tot fühlen, ist der grausamste tod, den er sich vorstellen kann. Leben und doch tot sein würde für ihn bedeuten, in der vergangenheit leben, die gegenwart nicht gegenwärtig zu leben, die zukunft aus den augen verlieren.
Gestern hatte er eine kinderschar beim spielen beobachtet. Alle lachten und schrien durcheinander, nur ein kleines mädchen sass abseits und war ganz stumm. War es ärgerlich, war es wütend, kein gefühl schien sich in ihm zu regen. Es zog sich in ein schneckenhaus zurück und beobachtete die lachenden, scherzenden kinder mit traurigem blick. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Das war seine maxime, die er sich zugrunde gelegt hat, um zu leben. Oder ist es einfach nur der mut zur traurigkeit?
Aber dann öffnet sich das herz des alten mannes
hoffnungsvoll und fiebrig. Seht ihr nicht, dass das leben so blau ist wie eine
lagune? Er möchte die Menschen glücklich
sehen, er möchte, dass sie ihren gefühlen trauen. Er will die enge sprengen,
die wände zwischen ihnen einreissen, er will sie fühlen in ihrem sein, ihrem
ganzen wesen, ihrer freude, ihrer trauer und ihren ängsten.
Ja, er weiss, dass er ein kleiner fisch ist in dem großen
ozean des lebens. Er weiss, dass er zu den schwachen gehört. Ja, er bekennt
sich dazu, eine schwäche für worte zu haben, für die rede, für die menschen und
besonders für die jugend, eine schwäche für menschen, die sich schwach fühlen.
Und geht er nicht deshalb den starken aus dem weg, ja provoziert sie sogar.
Arme kreaturen nennt er sie, die sich nur mit attributen schmücken, durch die
man sie leicht ersetzen kann. Mit viel präzision, fleiss, disziplin, mut,
arroganz und können setzt er sich gegen die stagnation zur wehr. Setzt sich für
die freiheit ein. So für die freiheit der worte. Fühlt sich wie ein vogel in
der luft und wie ein fisch im wasser. Weiss er doch, dass die zeit nie vergehen
wird, dass die menschen eines tages von der zeit erzählen werden, als könnten
sie die ewigkeit verstehen, könnten sie aufhalten, könnten die unendlichkeit
beherrschen.
Der alte mann hat sich auf dem marktplatz unter dem
grossen akazienbaum niedergelassen, der nun einen langen schatten wirft. Mit
kraft und ausdauer füllt ein einziges dieser lichtdurchfluteten wesen mit
seinem ohrenbetäubenden ---sch,sch,sch--- die stille aus. Der alte sieht
Phaidros über den platz schreiten und weiss, dass er es wieder versuchen wird.
Alle seine freunde wollen ihn davon überzeugen, dass er um sein leben bitten
soll. Dass er sich einer schuld bekennen solle, derer er sich nicht bewußt ist.
Er wird nicht abschwören, er wird seinen weg weitergehen und wenn es ihn sein
leben kosten wird.
Leila
hat den schützenden wald verlassen, in dem meterhohe königskerzen den pfad
säumen und mit ihrer gelben pracht licht in das dunkel bringen. Auf einer
lichtung pflückt sie einen strauss mit
duftenden bergkräutern. Thymian, Salbei, Estragon und Rosmarin, Lorbeere
am wegrand. Erschöpft und glücklich setzt sie sich in das trockene gras. Ihr
auge fängt die ausserirdisch schöne landschaft ein. Rindenlos glatte, mächtige
baumstämme, fast silbrig glänzend, in immer neuen formen verteilen sich über
die weite endlose ebene. Jeder baum hat so viel platz, dass er mit seinen
ausladenden ästen keinen anderen zu berühren scheint. Die erde breitet sich
rostbraun in seiner unendlichen weite vor ihr aus. Leise streicht der wind über
ihr gesicht und sie sucht ihre verirrten gedanken einzufangen.
Plötzlich hallt ein donnerndes wüten über
die hochebene. Leila sucht mit ihren
augen nach einem sicheren versteck. Da stellt sich ihr eine löwin mit
furchterregendem mädchenkopf in den weg.
„Ich
weiss, du bist auf der suche nach dem letzten einhorn.“ Ein entsetzliches
schnauben lässt Leila erschauern.
„Du
wirst deinen weg nur fortsetzen können, wenn du meine fragen beantwortet hast.
Drei an der zahl.“
Die Sphinx
öffnet eine goldene buchrolle und beginnt mit dumpfen und schrillen tönen ihre
fragen vorzutragen.
„Wer
oder was ist es?“
Die blauen
berge ringsum lassen die drohende stimme des mörderischen untieres widerhallen
und verwandeln die ebene in ein grosses schlachtfeld. Heisse blitze lassen
alles zu eis erstarren. Mit erhobenem haupt lauscht sie aufmerksam den worten,
weiss sie doch, dass nur die lösung des rätsels ihre rettung sein kann. Das
sollte nicht allzu kompliziert sein, sprach sie sich selbst mut zu, war es doch
ihre einzige chance. Leila starrt schutzlos in das böse gesicht der bestie, die
mit donnerndem schnauben beginnt:
„Nur in der vielfalt ist es eine
einheit. [1]
Im
geteilten findet es seine unteilbarkeit.“
Begleitet
von einem abscheulichen fauchen und kratzen der hufen verkündet die Sphinx ihre
dritte frage:
„Die
erfüllung seiner unendlichkeit findet es im endlichen.“
Wuterfüllt
und voller hass erzittert den kosmos und das untier erhebt sich mächtig über
dem jungen mädchen.
Leila
überlegt nicht lange und antwortet mit klarer fester stimme.
„Das
ist der Mensch allein.“
Auf die
lösung der fragen konzentriert, scheint das markerschütternde drohen der Sphinx
nicht an Leilas ohr zu dringen.
„Es
ist der mensch, in ihm ist alles vereinigt, ein kleiner kosmos in dem
allumfassenden der welt. Spiegelt sich in ihm die vielfalt, so bildet er eine
einheit“, erklärt sie mit einem lächeln.
„Die
vielen kleinen bausteine bilden eine einzige wohnung, in der er sich wohlfühlt.
Er ist unteilbar im geteilten.“
Leila zieht
den kräutergeschwängerten duft der wiesen mit dem atem ein.
„In dem
heute und morgen, hier und jetzt, im endlichen, findet er seine erfüllung.“
Nachdenklich
fügt sie hinzu: „Es bleibt nur eine leise sehnsucht nach der unendlichkeit.“
„Es
ist der mensch“, wiederholt Leila ein drittes mal „der in dem grossen kosmos
spiegelbild der welt ist.“
Mit leisem
strahlen blickt Leila in das hasserfüllte gesicht und erkennt, dass sie gewonnen hat. Das
siegessichere lächeln der Sphinx ist erstorben und sie dreht sich mit
zornesröte ab und die hufe hallen über das öde land: „Du wirst es finden, dein
geliebtes einhorn, aber es wird verletzt sein.“
Mit
gewaltigem flügelschlag setzt die Sphinx ihren weg fort. Leila sucht sich einen
platz, an dem sie sich ausruhen kann. Ist doch die dämmerung hereingebrochen
und die nacht schiebt sich mit aller macht voran. Das licht des himmels, gerade
noch geschaut, versinkt in einem meer von blau. Der mond steht hoch am himmel
und verteilt sein warmes licht. Mit liebe nennt Leila ihn ihren traumtänzer.
Zärtlich schliesst sie ihn in die arme und dankt ihm für die kraft, mit seinen
augen das reich der steine zu sehen und in ihnen zu versinken. Erschöpft liegt
Leila in ihrem mondbett und sucht die zweisamkeit mit dem geliebten einhorn.
Der mond scheint die traurigkeit zu spüren, umfängt das junge mädchen und legt
einen zauberspruch in seine steinwiege.
„Träume,
träume sollen dich nicht verlassen. Träume sollen dich begleiten und
beschützen.“
Da blickt
Leila in das mondhelle licht und richtet ein gebet zum himmel. Der lockende ruf
einer eule schwebt wie ein orakel über der einöde.
„Wer
ist ich und wer ist du? Ich weiss es nicht mehr“, verwirrt und mutlos legt sie
ihren kopf in den stein und versinkt in einen tiefen unruhigen schlaf. Das
dichte blattwerk des gelben ahorn bildet eine schützende krone. Die sonne
spielt mit den ahornblättern verrückt, tausend einhörner tanzen durch ihren
traum.
Nebelschwaden
fallen langsam zu boden und hüllen das land ein. Der morgen ist angebrochen. Da
springt das junge mädchen auf die füsse, streckt sich und erfrischt sich am
quellwasser. Sie will den weg noch einmal zurückgehen. Dort, wo das einhorn
sich schon einmal zu erkennen gegeben hat, will sie weiter suchen.
Der
weg führt sie wieder durch den dichten, dunklen wald. Ein leises ticken dringt
an ihr ohr. Sie blickt sich suchend um und sieht plötzlich an den bäumen uhren
hängen. Sie tritt näher und erkennt, dass auf jeder uhr eine andere zeit
abzulesen ist. Die erste zeigt halb acht, die zweite zehn nach zehn, die dritte
zwölf uhr eins und die vierte dreiundzwanzig uhr. Dann entdeckt sie eine uhr,
die zwanzig vor zwölf anzeigt. Der hohe glaskörper ist gesprungen und als Leila
genau hinschaut, erkennt sie, dass es das ticken einer zeitkapsel ist. Sie hat
noch zwanzig minuten zeit, um den wald zu verlassen. Leila läuft so schnell sie
kann und als sie am waldrand ankommt, erschüttert die erde unter der ersten gewaltigen
explosion. Eine uhr nach der anderen zerbirst und zerreisst alles in tausend
stücke. Wie ein riesiges ungewitter dauert es den ganzen tag und die folgende
nacht und zerstört alles leben in dem düsteren wald. Die zerstörung gleicht der
eruption eines vulkans, lässt die erde beben und brennen.
Aus
sicherer entfernung beobachtet Leila den aufruhr der gewalten, blitz und donner
wechseln sich wie spielend ab und erhellen den horizont im blutroten licht.
Schutz suchend legt sie ihren kopf in einen stein und blickt in das eisige blau
des himmels, der an einen sternenlosen abend erinnert, in ein tintenfass
getaucht scheint. Das halbdunkel ist erleuchtet vom frühlicht, das sich am
horizont nach oben schiebt. Tagesanbruch. Ein tagesschimmer nur. Die spiegelung
der hellen morgenröte lässt die weissen wolken wie rosa zuckerwatte erscheinen.
Ein zarter streifen kündigt die aufgehende sonne an. Die ersten sonnenstrahlen
erhellen sekunde für sekunde mehr die dämmerung und schieben sich mit aller
macht aus dem dunkel. Zentimeter für zentimeter erhebt sich der runde ball. Ein
gleissendes licht umgibt das zentrum des himmelskörpers, in das Leila nicht
mehr hinein blicken kann. Sie kneift die augen zu schmalen schlitzen zusammen,
um nicht von dem grellen licht geblendet zu werden. Überwältigt von der
schönheit des morgengrauens und des aufganges der sonne am himmelsdach schieben
sich die bilder des vergangenen tages und der vergangenen nacht zur seite und
machen platz für den kommenden. Sie kostet jeden augenblick aus und blickt
traurig in die verglimmenden rauchschwaden über dem zerstörten wald. Ein neuer
tag hat begonnen. Das sonnenlicht hat das dunkle blau des morgens in ein
leuchtendes graublau verwandelt. Helios kündet einen schönen sonnentag an.
Plötzlich
hört Leila ein kratzen, wie von einem besen. Sie schaut sich um und sieht eine
kleine alte frau, die die blätter vor ihrer Hütte zusammenfegt. Leila erhebt
sich und ein leeres gähnen lässt ihren körper zu neuem leben erwecken. Sie
streckt sich und spürt die kraft in ihren gliedern. Ungeduldig stellt sie der
alten nur eine einzige frage: „Hast du das verletzte einhorn gesehen? Ich suche
es schon seit tagen, kann seine spur nicht mehr finden. Wenn es jemand weiss,
so musst du es sein. Du hast zauberkräfte und kannst es mir vielleicht sogar
herzaubern. Kannst du?“
Die alte
schaut sie so freundlich an, dass sie vertrauen spürt.
„Du
kommst gerade recht, komm mit mir in meine kleine hütte. Ich werde dir einen
tee bereiten und du kannst dich wärmen.“
Sie nimmt
das mädchen an der hand und führt es in die warme stube.
„Setz
dich und erzähle, was du suchst. Dein ansinnen ist ein wenig ungewöhnlich. Hat
man doch das letzte einhorn schon hunderte von jahren nicht mehr gesehen.
Weisst du denn nicht, dass das ein alter, uralter mythos ist, der nur in der
einbildung der menschen existiert. Nie hat es jemand erblickt. Du läufst einem
irrweg nach. Bleibe hier, du kannst bei mir alle zauberkünste lernen.“
Leila
nimmt das angebot der alten hexe dankbar an. Waren doch die nächte so kalt,
dass man nicht mehr im freien schlafen konnte. Nur so hatte sie eine chance,
der hexe das geheimnis des einhorn abzulauschen. Wenn nicht sie, wer sonst
sollte mehr von ihm wissen. Leila legt sich neben den kamin, um zu ruhen. Die
kleine schwarze katze der alten dient ihr als kissen und wärmt ihre müden
schläfen.
In
der mitte der nacht erklingt plötzlich ein dumpfer glockenschlag. Die alte
steht an dem heissen kupferkessel und rührt mit einem kochlöffel ein gebräu aus
schlangenhaut, distelblüten und kostbaren kräutern.
„Hokuspokus
fidibus, walle auf und walle ab, dreimal schwarzer kater, abrakadabra,
simsalabim, tinketum und tinketam, wehe hin und wehe her, sesam öffne dich“,
zischt sie mit böser zunge. In der kleinen hütte ist die luft vom unheil der
gerüche geschwärzt. Doch alle sprüche wollen nicht mehr helfen. Ein
hasserfüllter blick trifft das am kamin in einen tiefen schlaf gefallene schöne
junge mädchen. War Leila zu vertrauensvoll, hatte nicht sorgfalt und vorsicht
walten lassen? Mit leiser böser stimme zischt die alte hexe: „Rickezack und
huckepack – kehre aus und kehre ein – zauber du sollst drinnen sein – balsamiki
risimuh risimah – buttermilch sei da.“
Es gluckst
und brodelt, es zischt und quillt, das feuer züngelt um den heissen kessel und
sprüht funken. Die alte bestreicht ihren besenstil mit dem balsam und setzt
sich darauf. Ehe sie sich versieht, schwebt sie bedrohlich über dem kamin. Mit
einem donnerschlag wacht Leila auf und blickt in die böse fratze der alten. Sie
kauert mit grossen angstvollen augen in einer ecke, die schwarze katze im arm.
Zärtlich streichelt sie über das seidige fell. Die böse speit heisse töne in
die luft und lockt die kleine katze in ihren bann.
„Luzifer,
meine süsse kleine. Komm zu mir. Komm“
Doch sie
hat keine macht mehr über sie, die grünen katzenaugen schiessen blitze in die
von hass geschwängerte luft und die alte stürzt zu boden und ist im selben
moment in eine kleine maus verhext. Wie zu salz erstarrt, sitzt sie am boden
und klappert mit den zähnen. Die schwarze katze löst sich aus den armen des
jungen mädchens und schleicht auf leisen pfoten zu ihr. Mit einer tatze wirft
sie die maus in die luft. Sie spielt mit ihr eine weile, dann beisst sie ihr
das genick durch und legt sie, schon fast in totenstarre, dem mädchen vor die
füsse. Ein leiser schauder läuft über Leilas rücken und sie streichelt die
kleine schwarze katze. Sie hat einen freund gefunden. Glücklich und traurig
zugleich bleibt sie an dem warmen kamin sitzen. Was sollte sie tun, sie war
einer grossen gefahr entronnen. Hatte die hexe doch nach ihrem leben
getrachtet. Ihrem ziel war sie noch keinen schritt näher. Sie will sich bis zum
morgen ausruhen und dann wieder auf den weg machen.
Als
Leila am nächsten morgen die tür öffnet, lässt sie sich nur mit mühe
aufschieben. Der erste schnee ist gefallen. Die kleine schwarze katze trägt sie
in einem tuch eingebunden am herzen. Den hexenbesen nimmt sie, um im schnee
nicht zu versinken und den weg besser zu finden. Sie hat eine spur im schnee
entdeckt. Hoffnungsvoll folgt sie der fährte, die den berg hinaufführt. Zwei
verknöcherte zypressen ragen in die höhe und erreichen den von weissen
gewitterwolken bedeckten himmel. Plötzlich öffnet sich die krone einer zypresse
und das weisse einhorn strebt mit aller kraft ins freie. Voller glück blickt
Leila sehnsüchtig dem so lange gesuchten einhorn nach. Sie setzt sich auf den
besenstil der besiegten hexe und nähert sich ihm zärtlich. Aus kräftigen
nüstern schnaubend bäumt sich das einhorn auf und lässt das glückselige junge
mädchen auf seinem rücken platz nehmen. Als wären ihm flügel einverleibt,
schwingt es sich in die weite. Leila schliesst die augen und umschlingt den
krafvollen hals des einhorn. Es strebt dem tiefen kristallklaren bergsee zu,
der still auf dem hochplateau liegt. Weisse tauben und zwei kakadus, ein roter
papagei ist auch dabei, ziehen kreischend kleine kreise um das versteinerte
Grabmal.
[1] Diadochos Proklos (gr. Mathematiker und Philosoph): vgl.: ‚Die besondere mathematische Vernunft besteht in der „Einheit durch die Vielfalt“, die „Unteilbarkeit im Geteilten“ und die Uunendlichkeit im Endlichen“.